Die Zugbrücke

Die Zugbrücken-Übung ist ein Klassiker im Ethik/ToK-Unterricht.

Weil ich sie auf meinem alten Blog publiziert habe, schaffe ich hier eine neue Heimat für meine Übersetzung und Lösung.

Im Unterricht erzähle ich die Geschichte meist mündlich und teile sie danach aus.

Hier ist meine aktuelle Version als pdf mit Aufträgen für die Diskussion.

Eine englische Version sowie eine weitere, ähnliche Geschichte findet sich hier.

Zu einer »Lösung« oder Besprechung der Aufgabe habe ich vor Jahren folgende Hinweise formuliert:

Die Geschichte ist bewusst mit Lücken behaftet, welche die Lesenden ausfüllen müssen. Wir wissen vieles nicht und treffen dazu Annahmen (in den Kommentaren zur Geschichte geht es z.B. häufig um die Frage, weshalb denn der Verrückte genau verrückt sei).

Die Diskussion dieser Annahmen zeigt uns wahrscheinlich, dass die moralische Bewertung von Handlungen von Annahmen abhängt (wir besitzen nie vollständige Information über Sachverhalte).

Die Übung stellt die Postion der intuitiven Ethik auf eine Probe: Wir erstellen die Rangliste wohl intuitiv, sind aber bereit, diese Urteile zu ändern. Andererseits bewerten wir wohl alle zunächst intuitiv, d.h. nicht von einer strukturierten Theorie ausgehend.

In der Ethik werden gemeinhin entweder Motive für die Beurteilung einer Handlung als ausschlaggebend betrachtet (so z.B. bei Kants kategorischem Imperativ), oder aber die Folgen einer Handlung (Utilitarismus). Erschwerend kommt zudem die Frage des Bewusstseins hinzu: Sowohl mangelndes Bewusstsein der eigenen Motive als auch mangelndes Bewusstsein der (potentiellen) Folgen einer Handlung können die moralische Beurteilung milder ausfallen lassen.

Davon ausgehend diskutiere ich nun zwei der sechs Personen:
a) Baron: Er droht seiner Frau mit einer Strafe. Sein Motiv ist wohl seine Eifersucht. Seine Handlung hat keine Folgen (?).
b) Baronin: Sie betrügt ihren Ehemann. Sie übertritt sein Verbot. Sie übertritt das Verbot des Verrückten. Ihr Motiv ist ihre Langeweile bzw. ihre Notsituation (ein Selbstmordwunsch? Verzweiflung?). Die Folgen ihrer Handlung sind ihr eigenes Leiden und der Stress, den sie ihrem Freund, ihrem Liebhaber und dem Verrückten beschert. Zudem genießt der Liebhaber wohl das Schäferstündchen (und die Baronin auch).

Fazit: Die Folgen zu bewerten ist äußerst schwierig. Wie misst man Leiden? Den Wert eines Menschenlebens? Vorteile, die man durch eine Handlung erhält?Auch die Motive sind schwer einzuschätzen. Psychologische Gegebenheiten sowie die Erfahrung von Personen dürften dafür eine wichtige Rolle spielen (angenommen dem Fährmann wurde in dieser Woche schon mehrmals das Versprechen gemacht, dass eine Überfahrt später bezahlt würde, oder er braucht dringend Geld etc.)

Die Bewertung hängt zudem von sozio-historischen Faktoren ab: War es zu dieser Zeit an diesem Ort (wann und wo spielt die Geschichte?) gesellschaftlich toleriert, dass eine Frau aus Langeweile ihren Mann betrügt? War es toleriert, dass ein Mann seiner Frau eine Strafe androht? War es üblich, sich unter Freunden Geld zu leihen? etc.

Meine Beobachtung ist, dass die Bewertungen eine größeren Gruppe (ca. 20 Personen) sich gegenseitig aufheben und addiert das Verhalten von allen sechs Beteiligten gleich beurteilen, obwohl es völlig unterschiedliche Bewertungen gibt (der Verrückte kann entweder an Position 1 oder 6 stehen, selten dazwischen) und ziemlich ähnliche (der Fährmann befindet sich meist im Mittelfeld).

Eine weitere Frage wäre, ob es darauf ankommt, wer die Geschichte beurteilt: Was für ein Alter, Geschlecht, Einkommen etc. die beurteilende Person hat. (Würden z.B. Frauen das Verhalten des Barons als schlimmer beurteilen als das der Baronin? Und warum?)