1000 Serpentinen Angst
Folien (in aktuellster Version)
Arbeitsblätter:
- Intersektionalität
- Wer spricht?
- Literarische Erörterung als Kommentar zu Textstellen: Teil I
- Erweiterung des Auftrags: Teil II
- Literarische Erörterung: Prüfung
Ergebnisse aus den Lektionen
19. August 2020
26. August 2020
Autobiographischer Pakt (Lejeune):
Wenn Autor*innen durch Namen/Genrebezeichnungen nahelegen, dass eine Ich-Figur mit der Autor*in übereinstimmt, spricht man von einem autobiografischen Pakt.
(Literatur in der Ich-Perspektive wird aber oft auch dann als autobiografisch gelesen, wenn diese Angebote nicht gemacht werden. Das ist oft nicht zulässig.)
Sollte man sich die Frage stellen, was man unterschlägt oder verschweigt?
- Pro als Kampf gegen Lebenslüge(n): »erkenne dich selbst«, an sich arbeiten und Probleme verarbeiten
- Contra als Vermeiden des Abgrunds (vgl. Woyzeck): es kann krank machen, sich ständig zu befragen, es kann helfen, Problemen aus dem Weg zu gehen
Wer spricht?
Wichtige Beobachtung: Im ersten Teil sind die FRAGEN in der 2. Person gestellt, die Antworten in der 1. Person – im dritten Teil ist das umgekehrt (vgl. z.B. S. 221)
- These 1: Der Automat
vgl. S. 11 (»Den Menschen, die zu mir gekommen wären, […] hätte ich eindringliche Fragen stellen können.«)
vgl. S. 9 (»mein Herz ist ein Automat aus Blech«) - These 2: Der Bruder
vgl. Schluss ab S. 110, dort fragt sicher der Bruder (»du bist seit 12 Jahren tot«, 110) – aber: alles ist klein und kursiv gesetzt
S. 34 klingt nach den Fragen des Bruders
(Verbindung: der Bruder ist vor einen Zug gesprungen, als sich das Ich einen Snack am Automaten geholt hat, vgl. S. 112 unten) - These 3: Die Behörden
Fragen wie z.B. S. 52 stammen aus den Fragebögen der US-Behörden, die bei der Einreise ausgefüllt werden müssen. - These 4: Stimmen im Kopf
Das Ich hört Fragen, die es sich selber stellt (z.B. der bewusste Teil dem unbewussten)
27. August
Kritik an den Holocaust-POV-TikToks (vgl. Blogpost dazu).
POV zwingt Zuschauende in einer Rolle, in eine Situation, an der sie vielleicht nicht teilnehmen möchten, vgl. diese Kritik am Trolley-Problem:
https://www.currentaffairs.org/2017/11/the-trolley-problem-will-tell-you-nothing-useful-about-morality
POV in »1000 Serpentinen Angst« (vgl. erste Seite):
- die fragende Instanz will alle Perspektiven einnehmen
- vor dem Automaten, im Automaten, neben einem Automaten, heute, früher, …
- Die Fragen gehen nicht nur an ein Ich/Du, sondern auch an die Lesenden, ähnlich wie in diesen POV-Videos.
Die Schildkröte S. 101/105
Sie steht für das Ich. Die Schnur steht für negative Emotionen, Ängste, Erinnerungen, welche das Ich lähmen. Weil es sich selber vieles »unterschlägt«, kann es die Schnur nicht durchbeißen und sich befreien, wartet darauf, dass jemand sie schneidet. Aber das tut niemand, das Ich braucht nicht aktive, sondern »passive Hilfe«.
Was passiert, wenn das Ich ins Wasser fallen würde? Es ertrinkt, weil es gar nicht schwimmen kann ohne Schnur – oder es schwimmt (bedeutet: es wächst und entwickelt sich als Person, kann als Erwachsene Beziehungen führen).
(vgl. mit dem Delphin S. 208f. – der Delphin-Ballon fliegt weg, obwohl das die Protagonistin nicht will, er ist auch mit einer Schnur befestigt, aber nicht in seinem Element; vgl. auch die Flügel-Szene S. 214).
2. September 2020
Wir haben den Begriff »textimmanent« diskutiert – damit ist ein Verfahren gemeint, bei dem ein Text aus sich sleber verstanden wird.
Der Trailer betont mit dem Eier-Motiv die Geburt und durch die Farbgebung die unterschiedlichen Stimmungen im Text. Die Figuren werden recht klar identifizierbar gespielt, der assoziative Aufbau des Textes findet sich auch im Trailer.
23. September
Die Motto-Zitate – Auftrag:
- Erklären Sie der Klasse mit einer sinnvollen Notiz oder Folie, was das Zitat im Kontext bedeutet.
- Schaffen Sie klare Bezüge zum Roman (mit Zitaten).
- Sie finden unten zu jedem der Zitate Material.
Ergebnisse Motto-Zitate:
- Zusammenfassung von E.W. als Mindmap
- Missy Elliott und bell hooks machen unterschiedliche Rollenangebote – der Roman beschreibt eine Bewegung von Missy Elliott (ausgelassen tanzen, Umkehrung der rassistischen und sexistischen Diskriminierung), die aber abgelehnt wird (explizit durch Szene mit dem Jungen auf S. 225, wo das Spucken aus dem Elliott-Video aufgegriffen wird).
- bell hooks betont in ihrem Text die Abwesenheit von Liebe, die den Roman stark prägt – über die Auseinandersetzung mit ihren Erfahrungen erkennt sie theoretische Zusammenhänge. Auch dieses Angebot nimmt die Protagonistin nicht direkt an; kann sich daran aber stärker orientieren.
- Berger beschäftigt sich stark mit Arbeitsmigration, was den Roman nur am Rande betrifft. Seine Aussagen zu Reisen und Fotografie ergeben aber Bezüge zwischen:
a) Reisen als Motiv im Roman
b) Fotografie
c) Erinnerung
d) Traum
Alle verbinden An- und Abwesendes, durch ihre Anwesenheit wird etwas anderes als abwesend markiert.
Abschluss, 30. September
Wir haben vier Passagen gelesen:
- »perfekte Blase«, S. 349 (unpaginiert)
- »Kind nach dem Krieg«, S. 347
- »gutes Leben«, S. 341
- »gesunde Angst mal 1000«, S. 337
Daraus haben sich fünf Deutungshypothesen für den Roman ergeben:
- Der Schluss deutet an, dass die Protagonistin (und Menschen) trotz Katastrophen, Rassismus, Traumata, Verletzungen und psychischen Krankheiten ein gutes Leben führen können.
- Die Blase markiert eine provisorische Illusion, einen schwachen Schutz durch Abkapselung.
- Das Kind führt zu einer »gesunden Angst« und damit zu Mut und einer Akzeptanz der eigenen Identität und Erfahrung (aber auch einer Überschreitung dieser Problematik, vgl. die Diskussion der Frage, ob das Kind eine dunklere oder hellere Haut als die Mutter haben sollte, S. 317f.)
- Im Kontrast zur Schildkröte und zum Delphin steht die blase für eine vorsichtige Aktivität der Protagonistin, die ihre Passivität abgelöst hat.
Der Text ist unzuverlässig erzählt. Generell ist erklärungsbedürftig, weshalb fiktionale Narrationen unzuverlässig sein können. Wir diskutieren drei Möglichkeiten:
- Erzählinstanz weicht von einer etablierten Geschichte ab.
- Metakommunikativ wird die Unzuverlässigkeit ausgedrückt oder eingeräumt (so ist es bei 1000SA).
- Aus unterschiedlichen Perspektiven ergeben sich Widersprüche, Zweifel (vgl. Rashomon).
Die unzuverlässige Erzählweise passt zu 1000SA, weil so psychologische Vorgänge plausibel dargestellt werden können, der Plot an Bedeutung verliert – es ist eigentlich egal, wie es wirklich ist – und weil der verbreitete Zweifel an Fakten so im Roman aufscheint.
Schlussfrage: Gibt es überhaupt zuverlässige Erzählinstanzen?